Das Gesetz Gottes und die Sünde


Die Puritaner haben sich sehr oft mit folgender Frage befasst: Welche Rolle spielt das Gesetz im Leben eines Christen? Wir müssen beim Thema des Wesens des Gesetzes, dessen Kenntnis durch den Menschen und der Beziehung zwischen Gesetz und Sünde die Puritaner zu Rate ziehen.

Das Gesetz: Gott übt sein Recht aus, zu gebieten

Was ist das Wesen des Gesetzes? Wenn man den Menschen als Maß aller Dinge sieht, dann können sich hier alle möglichen Antworten auf diese Frage ergeben. Die starke Neigung hin zum Humanismus, die wir heute sehen, war im siebzehnten Jahrhundert schon genauso stark. Die Puritaner begegneten diesem Humanismus zurecht mit einer robusten Lehre „der Majestät Gottes, mit ihrer Entsprechung in der Lehre vom Gesetz Gottes“.[1] Die Puritaner dachten niemals, dass das Gesetz Gottes ein abstraktes Konzept war, sondern Teil ihrer „Wahrnehmung des erhöhten Gesetzgebers [war]: Hinter dem lex (Gesetz) steht der Gesetzgeber“. Das Gesetz Gottes ist somit „der Ausdruck der göttlichen Majestät“.[2] Anthony Burgess fasste es wie folgt zusammen: „Das Gesetz ist nur dann Gesetz, wenn Gott auch Gott ist.“[3] Das Gesetz bedeutet, dass Gott seinen alles überragenden Willen ausübt.

Das Gesetz ist für Gott etwas Persönliches, weil es die Vollkommenheit seines Wesens widerspiegelt.[4] Weil das Gesetz untrennbar von Gottes persönlichem Willen und seiner Herrlichkeit ist, hat es seit der Erschaffung des Menschen eine beständige Qualität.[5] Gottes Gesetz ist nicht wie menschliche Gesetze, weil unser Gesetzesbruch gegen einen menschlichen Statthalter kein Angriff gegen seine Person ist – aber (so schrieb es Thomas Taylor) „Gott und das, was er im Gesetz sind so eng vereint, dass man nicht eines verletzen kann und das andere unverletzt bleibt“.[6] Da Sünde das Brechen des Gesetzes Gottes ist, sollten wir sie „nicht nur anhand der intrinsischen Falschheit der Handlung“, sondern anhand des Angriffs gegen Gottes Majestät bewerten.[7] Die Sünde ist damit immer ein persönlicher Angriff gegen Gott, da das Gesetz „das Wesen Gottes selbst trägt“.[8]

Da das Gesetz im Wesentlichen eine Offenbarung und Erklärung des Willens Gottes ist,[9] hat Gott es niemals nötig, sich zu erklären und manchmal (so merkt es Thomas Manton an) gibt Gott „keine andere Erklärung seines Gesetzes als diese: ‚Ich bin der Herr‘“.[10] Gottes Recht zu gebieten „ist [jedoch] nicht eine Lehre der göttlichen Willkür“. Für die Puritaner machte das Gesetz Gottes ihn nicht deistisch entfernt, sondern persönlich nahe – derselbe Gott, der das Recht zu gebieten hat, ist der Gott, „dessen Gnade und Wahrheit in Christus geoffenbart werden“.[11]

Das Gesetz Gottes im Herzen des Menschen

Gott schrieb sein Gesetz in die Herzen der Menschen, als er uns schuf (Röm 2,14-15). John Lightfood sagte: „Adam hörte so viel im Garten wie Israel am Berg Sinai, nur mit weniger Worten und ohne Donner“.[12] Und Vavasor Powell fügte hinzu: „Es ist wahrscheinlich, dass er die Essenz der Zehn Gebote in seine Natur hineingeschrieben hat.“[13]„Dieses hineingeschriebene Gesetz ist die eigentliche Grundlage des Gewissens“[14] und ein Vehikel für die Glückseligkeit des Menschen. Das Gesetz war „von seinem ursprünglichen Zweck her keine Last“, sondern „die Essenz der Freude des Menschen“.[15] Richard Baxter sagte: „Es ist ein Widerspruch, glücklich und unheilig zu sein.“[16] John Preston veranschaulichte das noch bildreicher:

Wie die Flamme im Öl lebt oder wie die Kreatur von ihrer Nahrung lebt, so lebt der Mensch, indem er die Gebote Gottes hält, d.h. dieses geistliche Leben, dieses Leben der Gnade, wird erhalten, indem er die Gebote tut; wohingegen andererseits jede Bewegung weg von den Wegen der Gebote Gottes und hin zur Sünde, wie die Bewegung des Fisches weg vom Wasser ist, jede Bewegung ist eine Bewegung hin zum Tod.[17]

Weil das Gesetz ein Ausdruck der Heiligkeit Gottes ist, ist das Wesen des Gesetzes geistlich. „Die Forderungen des Gesetzes sind inwendig, berühren Motive und Wünsche, und beschäftigen sich nicht ausschließlich mit äußerlichen Handlungen“.[18] Thomas Wilson sagte: „Die Geistlichkeit des Gesetzes stellt Forderungen an den Gläubigen, die er nicht erfüllen kann.“ Nur der Geist, welcher der Autor des Gesetzes ist, kann uns dabei helfen, dem Gesetz „mit einem gewissen Maß an Wahrheit und Aufrichtigkeit“ zu gehorchen.[19]

Als jedoch die Sünde in die Welt kam, verringerte sie unsere Kenntnis des Gesetzes, schwächte unsere moralische Fähigkeit und machte uns vollständig unfähig, es zu erfüllen.[20] Der Sündenfall im Paradies zerschmetterte die Kraft des Menschen zu gehorchen, „doch die Verpflichtung zum Gehorsam bleibt. Wir werden ebenso wenig von unseren Pflichten entbunden, weil wir keine Kraft haben, sie zu erfüllen, wie ein Schuldner von seinen Banden entbunden wird, weil er Geld braucht, um zu bezahlen“.[21] Burgess schrieb, dass Gott ein wenig Wissen über das moralische Gesetz im Herzen des Menschen übriggelassen hat, um dem Menschen keine Entschuldigung zu lassen und „einen Boden für die Bekehrung“ zu bieten,[22] „obwohl der Mensch keine Macht hat, sich selbst zu bekehren“.[23]

Das Gesetz, die Sünde und die Unvollkommenheit des Gläubigen

Viele wissen, dass die Puritaner „eine ernste Sichtweise auf Sünde einnahmen“, aber diese Einstellung erwuchs aus einem Verständnis des „Verhältnisses [der Sünde] zum Gesetz“.[24] Die Puritaner lehrten, dass das Gesetz und die Sünde korrelieren, denn „wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung“ (Röm 4,15). Während das Gesetz die Sünde definiert, einschränkt und verdammt und den Sünder von seiner Schuld überführt, fordert es auch auf paradoxe Weise aufgrund der verdorbenen Natur des Menschen die Sünde geradezu heraus (Röm 7,5.8).[25] Aber trotzdem verdammt das Gesetz immer noch die Sünde und überführt den Sünder, nicht aufgrund von „irgendetwas, das dem Gesetz eigen ist“, sondern aufgrund „des Bösen, das uns eigen ist“.[26] Edward Elton erklärte:

Ohne die wahre Kenntnis des Gesetzes liegt das Verderben der Natur verborgen und ist gleichsam tot…. Die Menschen sind bereit, sich selbst zu beschwichtigen und gut von sich selbst zu denken…. Sie segnen sich selbst und denken, dass es ihnen gut geht und sie in jeder Hinsicht gut dastehen. Das Gesetz Gottes … lässt die Menschen sich selbst als tote Menschen sehen und fühlen, die sich aufgrund ihrer Sünden in einem höchst erbärmlichen Zustand befinden.[27]

Die Puritaner predigten das Gesetz durch etwas, das sie „gesetzmäßiges Predigen“ nannten, um die Menschen zu einem Bewusstsein der Sünde zu erwecken, denn (wie Giles Firmin feststellte) „können Menschen ohne das Evangelium aber nicht ohne das Gesetz von Sünde überzeugt werden“.[28] Im typisch puritanischen Denken schrieb John Flavel: „Das Gesetz Gottes hat eine seelengewinnende und herzergreifende Wirkung“, und bevor die Seele nicht „um der Sünde willen verwundet ist, wird sie niemals von der Sünde bekehrt und wirksam zu Jesus Christus gebracht werden.“[29]

Antinomisten wie bspw. John Eaton und Tobias Crisp fachten eine Kontroverse über das Thema Sünde im Gläubigen an, indem sie leugneten, dass „seine Unzulänglichkeiten als Sünde betrachtet werden müssten“.[30] Whitney Gamble fasste es folgendermaßen zusammen: „Gottes gnädiger Akt, Christi Vermittlerrolle anzunehmen, bedeutete [für sie] nicht nur, dass Gott sein Volk nicht mehr als Sünder ansah, sondern auch, dass Gläubige sich nicht mehr als solche sehen sollten.“[31] Eines der Kennzeichen der Antinomisten war es, dass sie irrtümlicherweise „die Kategorien der Rechtfertigung [verwenden], wenn sie über Heiligung sprechen“.[32] Für sie „war wegen der eliminierten Rechtfertigung die fortwährende Heiligung nicht mehr nötig“, da Gläubige „automatisch … im Gesetz wandeln“ würden.[33] „Die Wurzel der antinomistischen Fehleinschätzung lag im Konzept der Rechtfertigung der Werke des Gläubigen“, es ist jedoch moralisch unmöglich, sündhafte Werke zu rechtfertigen. Gott kann Böses nicht gut nennen oder ungerechte Werke gerecht machen. Sünde kann niemals etwas anderes sein als Sünde“.[34]

Walter Cradock verknüpft einfühlsam geistliche Depression mit deren Wurzel, „weil man auf irgendeine Weise, selbst bis heute, Heiligung mit Rechtfertigung verwechselt.“[35] Die Antinomisten sprachen von der Sünde als von einer Krankheit. Sie ist jedoch mehr als eine Krankheit. Die Sünde entspringt nicht der Schwachheit, sondern der Boshaftigkeit.[36]

Daher lehrten die Puritaner, dass Gläubige ihre innewohnende Sünde als Sünde anerkennen und demütig bekennen müssen.[37] Thomas Goodwin lehrte, dass Gläubige oft erleben, dass „ein wiedergeborener Mensch … an sehr viel mehr Sünden schuldig ist als ein nicht wiedergeborener Mensch“, da die Sünden des Gläubigen nicht nur wider besseres Wissen begangen werden, sondern auch „gegen die Barmherzigkeit“ gerichtete Sünden sind.[38] John Ball schrieb, dass sich ein Gläubiger nach einem Rückfall „durch ein schnelles Bedenken seines Tuns“ erholen muss, „indem er seine Buße mit Kummer und Scham erneuert, seine Sünde vor Gott beweint, sein Leben neu ordnet und die Verheißung der Barmherzigkeit ergreift“.[39] Die Sünde ist nicht weniger Sünde, weil sie von einem Gläubigen begangen wird. Deshalb muss auf die Erfahrung des Christen, die mit dem Schrei „Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!“ (Lk 18,13) beginnt, das Gebet „Von den verborgenen Sünden sprich mich frei!“ (Ps 19,13) folgen.[40]

Die Anwendung auf uns heute ist offensichtlich: Wir müssen unsere Sünden als Boshaftigkeit anerkennen und bekennen, und sie nicht als Schwachheit entschuldigen oder wegerklären. Die Sünde muss für uns Sünde bleiben. Gilt das für Sie als gerechtfertigten, sicheren Gläubigen? Ist die Sünde für Sie „überaus sündig“ (Röm 7,13)?

Auszug aus dem Buch God’s Grace Shining through the Law von Joel R. Beeke

https://www.3lverlag.de/kategorien/1626-von-der-abtoetung-der-suende.html

[1] Ernest F. Kevan, The Grace of Law: A Study in Puritan Theology (London: Carey Kingsgate, 1964; repr., Grand Rapids: Soli Deo Gloria, 1997), S. 50.

[2] Kevan, S. 48. Wenn die heidnischen Völker die Majestät des Gesetzes Gottes sehen, das Israel gegeben wurde, können sie nicht anders, als die Majestät des Gesetzgebers zu sehen: „Denn wo gibt es eine große Nation, die Götter hätte, die ihr so nahe wären wie der HERR, unser Gott, in allem, worin wir zu ihm rufen? Und wo gibt es eine große Nation, die so gerechte Ordnungen und Rechtsbestimmungen hätte wie dieses ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege?” (5.Mose 4,7–8).

[3] Anthony Burgess, The True Doctrine of Justification Asserted and Vindicated (London: A. Miller for Tho. Underhill, 1664), 2:379.

[4] Kevan, The Grace of Law, S. 48.

[5] Kevan, S. 47.

[6] Thomas Taylor, Regula Vitae, The Rule of the Law under the Gospel (London, 1631), S. 233. Da das Gesetz „der unmittelbare Ausdruck seiner Vollkommenheit ist, war es unerheblich, ob ‚das, was Gott gewollt hat, richtig war‘ oder ‚das, was Gott gewollt hat, richtig war‘, denn beide müssen in ein und derselben Sache aufgehen“ (77). Die Puritaner lehrten, dass wir das Richtige „aus dem einfachen Motiv heraus tun, Gott in völligem Gehorsam zu verehren“ (77).

[7] Kevan, The Grace of Law, S. 251-252.

[8] Ferguson, The Whole Christ, S. 166.

[9] Kevan, The Grace of Law, S. 50.

[10] Thomas Manton, Hundred and Nineteenth Psalm (London, 1681–1701), 3:172.

[11] Kevan, The Grace of Law, S. 52.

[12] John Lightfoot, Miscellanies, Christian and Judaicall, and others (London, 1629), S. 182-183.

[13] Vavasor Powell, Christ and Moses Excellency (London, 1650), S. 186. Siehe auch Kevan, The Grace of Law, S. 60.

[14] Kevan, The Grace of Law, S. 59.

[15] Kevan, S. 60-61.

[16] Richard Baxter, End of Doctrinal Controversies (London, 1691), S. 205.

[17] John Preston, Sermons: New Life (London: 1631), S. 53.

[18] Kevan, The Grace of Law, S. 63.

[19] Thomas Wilson, A Commentarie upon the…Romanes (London, 1614), S. 220.

[20] Kevan, The Grace of Law, S. 69.

[21] Kevan, S. 152. William Pemble, Vindicae Fidei (Oxford, 1625), S. 91-92.

[22] Anthony Burgess, Spiritual Refining (London, 1652, 1654), S. 337.

[23] Anthony Burgess, Vindiciae Legis (London, 1646), S. 94-95.

[24] Kevan, The Grace of Law, S. 107. „Sünde ist jeder Mangel an Übereinstimmung mit einem göttlichen Gesetz oder jede Übertretung eines göttlichen Gesetzes, welches dem vernünftigen Geschöpf zur Richtschnur gegeben ist.“ (Der große Westminster Katechismus, S. 24).

[25] Diese provozierende Funktion des Gesetzes ist ein „zufälliger“ Widerspruch (nicht absichtlich). „Bei den nicht Wiedergeborenen lässt es ‚zufällig diese Begierden anschwellen‘“. Thomas Goodwin, An Unregenerate Man’s Guiltiness before God, in Works (London, 1692), 10:64. Siehe auch Kevan, The Grace of Law, S. 81.

[26] Ferguson, The Whole Christ, S. 165.

[27] Edward Elton, Complaint of a Sanctifyed Sinner, in Three Excellent and Pious Treatises, Part 1 (London, 1618), S. 86, 89, 95.

[28] Giles Firmin, The Real Christian (London, 1670), S. 51-53. Gesetzmäßiges Predigen ist „das große Werk, das die Diener Gottes in unserer Zeit in ihren Gemeinden tun müssen.“ Anthony Burgess, Spiritual Refining, S. 143.

[29] John Flavel, Method of Grace (London: 1681), S. 221, 224.

[30] Kevan, The Grace of Law, S. 93.

[31] Whitney Gamble, Christ and the Law: Antinomianism at the Westminster Assembly (Grand Rapids: Reformation Heritage Books, 2018), S. 55.

[32] Kevan, The Grace of Law, S. 95-97.

[33] Gamble, Christ and the Law, S. 53. „Diese Lehre, dass die gerechtfertigten Kinder Gottes vor der Sünde bewahrt und aus Furcht vor Korrektur und Strafen zu einem heiligen Wandel angehalten werden müssen, mindern nicht die wahre Natur der Heiligung.“ John Eaton, The Honey-combe of Free Justification by Christ Alone (London, 1642), S. 145. John Eaton war „wohl der erste Antinomist“. Gamble, Christ and the Law, S. 155.

[34] Kevan, The Grace of Law, S. 99-100.

[35] Walter Cradock, „Priviledge and Practice of the Saints“, in Gospel Holinesse (London, 1651), S. 234-235.

[36] Kevan, The Grace of Law, S. 103.

[37] Kevan, S. 79.

[38] Thomas Goodwin, Aggravation of Sin, in Works (London, 1637), 4:169, 185, 188.

[39] John Ball, A Short Catechism Contayning the Principles of Religion (London, 1642), S. 41.

[40] Kevan, The Grace of Law, S. 79-80.


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